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melilla

Passt man die Perspektive an, so scheint Melilla einfach ein europäisches Freiluftgefängnis auf afrikanischem Boden zu sein. Der Gedanke kam mir kurz vor Ankunft durch den Hinweis eines 60-jährigen Marokkaners, als er von der Fähre aus auf das alte Festungsgebäude zeigte, einem der Sehenswürdigkeiten dieser autonomen spanischen Stadt. Statt dicker Mauern gibt es heute hohe Zäune, in Reihe geschalten, mit messerscharfem NATO-Draht zur Verteidigung – ja wovon und wovor denn eigentlich? Zur Verteidigung der Normalität des exklusiven europäischen Luxuslebens, auch hier in der Exklave Melilla. Zollfreie Shoppingparadieszone, ein Kleinod des Strandjoggens, die Verherrlichung interreligiösen Zusammenlebens von Christen, Moslems, Juden und Hindus.

Como una isla

Die Frau in der Touristeninformation verstand nicht ganz, was ich meinte, als ich sie direkt fragte, ob es denn nicht eine Ausstellung zum Zaun gäbe. Ob es denn nicht ein komisches Gefühl sei, hier in einer Exklave zu wohnen, umgeben von hohem und mehrfachem Stacheldrahtzaun. Nein, sei es nicht, man muss eben alles einfliegen oder mit dem Schiff importieren, aber naja. Wie eine Insel also? Ja, wie eine Insel. Mit dem Rücken zur Wand zu stehen kann auch einfach Ausdruck von Ignoranz sein. web_IMG_1497

Auf der anderen Seite birgt Melilla natürlich auch Möglichkeiten des interkontinentalen Austausches. Arbeitsmigranten wie mein 60-jähriger Begleiter haben sie genutzt. Aus Nador, zehn Kilometer von Melilla entfernt kommend, hat er es bis Montpellier in Frankreich geschafft, bis zu seiner Rente dort gearbeitet und seine Familie gut versorgt. Jetzt kehrt er zurück nach Marokko und verlagert sein Leben in eine soziale Umgebung, die ihn anerkennt.

Oder ist er doch ein bezahlter Verlierer, der einfach versucht, seine letzten Jahre in Ruhe zu verbringen? In Frankreich nie richtig angekommen, von seinen marokkanischen Nachbarn argwöhnisch beneidet? Sein Sohn, Mitte 30, ist Alkoholiker. Auch wenn er augenrollend zu ihm steht, Menschen da wie dort, in Marokko und in Europa, reagieren mit Distanz auf ihn, mit Ablehnung. Henne und Ei sozialer und im Grunde rassistischer Ausgrenzung.

Solo queremos una solucion

Rachid (Name geändert) begrüßt mich mit der Frage „Do you speak English?“, nachdem er von einem Freund herbeigewunken wurde. Ich treffe die beiden und weitere 20 friedliche Protestierende auf der Plaza España, dem zentralen Platz Melillas in der Nähe der alten Festungsanlage und dem Fährhafen. Drei Transparente hängen zwischen den Bäumen und sollen auf sie und ihr Anliegen aufmerksam machen: „Wir wollen nur eine Lösung!“ steht auf einem. Ihre Erklärung des Problems verstehe ich schnell: Aufgrund ihrer hellen Hautfarbe war es für die rund 50 Betroffenen recht einfach, nach Melilla einzureisen. Doch ebenso schnell mussten sie feststellen, dass dies hier eine Sackgasse war. Ausgestattet mit besonderen Papieren dürfen sie zwar soziale Leistungen der Stadt in Anspruch nehmen, sie bekommen eine Unterkunft im „Centro de Estancia Temporal de Inmigrantes“ (CETI), nämlich in riesigen, schlecht belüfteten und unbeheizten Schlafsälen, zugestellt mit 3er-Hochbetten, ohne jegliche Intimsphäre aber stattdessen mit geteilten Krankheiten und schlaflosen Nächten. Auch Essen bekommen sie, zu festen Zeiten und Portionen. Es klingt wie das Verlies im großen Luxusressort. Einen Anwalt bekommen sie nicht und sie können ihn sich selbst nicht leisten; wovon auch. So sind sie hier und zum Warten verurteilt, zum Warten auf die Gnade einer Lösung dieser für sie ausweglosen Situation. Aus Algerien kommend können sie Asyl nicht erfolgsversprechend beantragen, arbeiten dürfen sie nicht, die Weiterreise auf das europäische Festland wird ihnen verwehrt. web_IMG_1479

Rachid ist einer von diesen 50 Wartenden, aber seine Geschichte ist anders. Er lebte jahrelang in England. Seine Augen glänzen, als er erzählt, dass er auch schon mal in Deutschland war, beim Rock am Ring nämlich. Aber irgendwann wollte er es wissen, er wollte seinem Leben auf Biegen und Brechen eine positive Wendung geben: nach Jahren des Exils in England und nur noch schemenhaften Erinnerungen an das Algerien seiner Kindheit, musste es dort doch mittlerweile wieder besser sein, dort wo er geboren war, dort, woher seine Familie stammt, dort, worüber er mehr Geschichten als Fakten kannte. Deshalb setzte er alles auf eine Karte und reiste mit seinem algerischen Pass in sein Geburtsland – mit dem Wissen, dass damit sein Recht auf Asyl in seinem bisherigen Aufenthaltsland erlosch. Er verlor alles. Nach kurzer Zeit stellte er fest, dass sich Algerien zwar verändert hatte, jedoch zum Schlechteren, dass es dort keine Möglichkeit gab, sich ein Leben aufzubauen, ja noch nicht mal zu überleben. Er sah keinen anderen Weg als zu versuchen, irgendwie wieder nach Europa zu kommen. Und er versuchte es über Melilla. Heute ist er 23 Jahre alt – und wartet auf sein Leben.

Anders als Geflüchtete aus Syrien, die schon auf der marokkanischen Seite der Grenze ein Formular in die Hand bekämen, mit dem sie Asyl in der Europäischen Union beantragen könnten und das damit ihr sicheres Flugticket auf das europäische Festland sei, und selbst anders als Geflüchtete aus Subsahara-Afrika, die zwar jedes Mal ihr Leben aufs Spiel setzen würden, um die mit einem bis zu 6-fachen Zaun gesicherte EU-Außengrenze zu überwinden und dadurch europäischen Boden auf Afrika zu berühren und ihr Asylgesuch vorbringen zu können, hätten es im Vergleich einfach – es dauerte meistens nur ein paar Tage und sie werden ausgeflogen. Aber diese etwa 50 Männer sitzen fest, sie sitzen fest zwischen dem Zaun und ihrem Willen zu leben. Für Europa sind sie nur Wirtschaftsflüchtlinge, Menschen die es wagen, ein besseres Leben führen zu wollen – im übrigen eine Tugend des Kapitalismus. Doch die berechtigte Frage Rachids lautet: Warum lassen sie uns dann überhaupt hier rein, halten uns fest ohne eine Perspektive zu geben? Er selbst ist seit Juni 2014 hier, andere bereits seit 2013 und 2012.

Der Anlass der Kundgebung auf der Plaza España war nicht Wut, war nicht Zorn, war keine Kriegserklärung. Der Anlass war Hilflosigkeit: In der Nacht davor wurde einer der 50 Betroffenen brutal vom städtischen Sicherheitsdienst verprügelt. Er sei betrunken gewesen.

Je suis Mohammed – Islamic State

Von der Plaza España bis zum Grenzzaun ist es etwa eine halbe Stunde zu Fuß – egal in welche Richtung man geht. Ich habe mich für die Straße Richtung Nordwesten entschieden und folge der Avenida de la Democracia, biege rechts in die Calle Luis de Sotomayor (spanischer Schriftsteller des 16./17. Jahrhunderts), nehme dann die Calle Carlos Ramírez de Arellano (spanischer Gelehrter des 19. Jahrhunderts), gehe rechts in die Calle Ibañez Marin (spanischer Soldat und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts) und folge schließlich der Carretera Cañada Hidum. Je weiter man sich dem Zentrum entfernt, desto deutlicher steigt der muslimische Charakter der Stadt, bis man schließlich an einer dieser kleinen und eher versteckten Moscheen und den ersten vollverschleierten Frauen vorbei kommt. Der letzte Abschnitt vor dem nun geschlossenen Grenzübergang wird deutlich leerer, noch ein Fußballfeld und eine Autowerkstatt zur Linken, zur Rechten ein Hügel, der dahinter zum Meer hin abfällt und als Militärgebiet gekennzeichnet ist. web_IMG_1507Parallel zur Grenzanlage verläuft eine Straße, großzügig ausgebaut und bis auf etwa ein Fahrzeug alle fünf Minuten menschenleer. Von der anderen Seite der Grenze hört man fußballspielende Jungs und auf Arabisch geführte Gespräche. Auf meiner, der europäischen Seite, sehe ich nur einen mich beobachtenden Schäfer auf einem der Hügel. Gespenstische Ruhe und doch die Gewissheit, dass hier täglich über Leben und Tod entschieden wird. Der Grenzzaun besteht aus mehreren einzelnen Zäunen, teils mit Stacheldraht verstärkt. Alle paar Meter sieht man grün lackierte, verschlossene Metalltüren. Bewacht werden sie von Kameras und einem Patrouillenfahrzeug.

Statt der einsamen Straße zwischen Grenzzaun und militärischem Sperrgebiet bis zum Meer zu folgen, kehre ich um und beobachte am ehemaligen Grenzübergang die Polizeikontrolle eines Autos mit spanischem Nummernschild. Die schwarz gekleideten Polizisten sind schwer bewaffnet und wirken nervös. Einen Tag davor wurden Verdächtige, die einen terroristischen Anschlag geplant haben sollen, in Ceuta verhaftet. Der Krieg gegen den Terror läuft im Moment für beide Seiten recht gut. Die Carretera Cañada Hidum zurückgehend, stolpere ich förmlich über ein Graffiti: Je suis Mohammed – Islamic State. Daneben das entsprechende Symbol mit arabischer Schrift. Der schwarze Lack glänzt frisch, die Verwendung einer Schablone lässt vermuten, dass es nicht die einzige Botschaft ist. Unter beobachtenden Augen gehe ich weiter, als ob nichts gewesen sei.

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Die fast 90.000 Einwohner werden von drei regionalen Tageszeitungen mit Informationen versorgt. Neben ausführlichen Sportteilen besticht vor allem eine durch ihre ausgewogene Berichterstattung zum Thema Migration in und vor den Toren Melillas. So erschien an ein und dem selben Tag nicht nur ein Artikel über den Protest von Rachids Gruppe auf der Plaza España. In einer Kurzmeldung wurde auch der erfolgreiche Versuch von fünf Migranten thematisiert, mit einem Auto die Grenze zu durchbrechen und weit ausführlicher wurde über eine stadtinterne Diskussion berichtet, wie mit minderjährigen Geflüchteten umzugehen sei, die sich ohne Begleitung durch oder unter die Gitter am Hafen schieben und so europäischen Boden erreichen. Auf sich gestellt und in kleinen Gruppen unterwegs, versuchen sie, etwas Kleingeld und Essen aufzutreiben und so ihren Alltag zu bestreiten. Die Diskussion allerdings, ob nicht das Wohl der Kinder und ihr Recht auf Bildung vor den europäischen Gesetzen zur Immigration zu setzen seien, läuft irgendwie ins Leere, solange sie als Straßenkinder allenfalls von der Polizei beachtet werden – wenn sie von zentralen Plätzen der Stadt vertrieben werden.

Bienvenue à Maroc, madame!

Der offizielle Grenzübergang ist wie erwartet sehr betriebsam. Ströme von Händlern verlassen in meiner Richtung Melilla, nur um anderen Händlern Platz zu machen, die schon auf der anderen Seite darauf warten, die Stadt betreten zu dürfen. Alles scheint so einfach, die Händler werden beim Verlassen der Exklave kaum eines Blickes gewürdigt, die Autos nur halbherzig auf marokkanischer Seite angehalten. Die Warteschlange in der Gegenrichtung ist selbstredend nicht für alle gleich einfach zu nehmen. Als mich dann der erste Mensch mit Blick auf meine beiden schweren Rucksäcke aufs herzlichste in Marokko begrüßt, ich genüsslich meinen ersten Minztee schlürfe und nochmals einen Blick zurück werfe, bin ich froh, der europäischen Festung entkommen zu sein.

Mehr Informationen zur Carretera Cañada Hidum, zu CETI und zur erwähnten Lokalzeitung

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